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Rabea Edels Roman umspannt Jahrzehnte und verknüpft Zeitgeschichte mit persönlichem Schicksal. Im Mittelpunkt: eine unangepasste Frau, flirrend, poetisch und mutig, die sich entscheidet, dem scheinbar Vorherbestimmten etwas Eigenes entgegenzusetzen.
Raisa lebt allein mit ihrer Mutter Martha und das schon immer. An ihren Vater hat sie keine Erinnerung. Ihr Name ist das Einzige, was sie von ihm bekommen hat – besser so, sagt Martha. Doch Raisa beginnt, Fragen zu stellen. Als der Nachbarsjunge Mat verschwindet, beginnt Martha zu erzählen. Von der Großmutter Dina. Von Lügen, die schützen, und Lügen, die in Gefahr bringen. Von der Liebe ihres Lebens und ihrem größten Verlust. Rabea Edel zeichnet in ihrem Buch die bewegende Lebensgeschichte ihrer Mutter und das Portrait einer Nachkriegsgeneration, die im Schatten der Gewalt und des Schweigens aufgewachsen ist. Sie erzählt von der Kraft der Liebe und von der Rückeroberung der eigenen Geschichte durch die Sprache. Ein Buch wie ein Kaleidoskop, das vor allem die Frauen in den Blick nimmt – und die weibliche Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden.
396 Seiten mit 1 Stammbaum - Leseprobe (PDF) - auch als digitales Hörbuch lieferbar -
© Foto: Rabea Edel
Rabea Edel, 1982 in Bremerhaven geboren, lebt an der Mosel und in Berlin. Sie war Preisträgerin des Open Mike, Stipendiatin der Jürgen-Ponto-Stiftung und der Akademie der Künste. Ihr Debütroman "Das Wasser, in dem wir schlafen" wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kunstpreis Literatur Berlin-Brandenburg sowie dem Nicolas-Born-Förderpreis. Ihr zweiter Roman "Ein dunkler Moment" stieß auf ein ebenso begeistertes Echo. 2021 veröffentlichte sie das Kunstbuch "A Second Beating Heart". Regelmäßig stellt sie auch als Fotografin aus. Ihr Hörspiel "Ihre Geister Sehen" (Deutschlandfunk Kultur), gesprochen von Sandra Hüller, wurde mit dem ARD-Hörspielpreis ausgezeichnet.
„Es gibt nicht auf jede Frage eine Antwort. Mit jeder Antwort wächst unsere Verantwortung; wir sehen ja, wie sich unsere Welt derzeit verändert und zu kippen droht.“
Literatur und Fotografie sind zwei unterschiedliche Arten zu erzählen. Sind es die gleichen Themen und Geschichten, die Sie in beiden Künsten beschäftigen?
In der Fotografie erzähle ich in Bildern, im Schreiben versuche ich Bilder zu finden, durch die erzählt wird. Für mich greift alles ineinander und ergänzt sich. Je nachdem, welche Geschichte ich erzählen will, findet sich eine Form, die sich als die individuell richtige herausstellt.
Ihr Roman hat etwas Fotografisches im Titel: „Portrait meiner Mutter mit Geistern“. Sie zeichnen darin das Bild einer Nachkriegsgeneration, die im Schatten der Gewalt und des Schweigens aufgewachsen ist. Was macht die Frauen und Familien dieser Zeit aus, was die Familie, von der Sie erzählen?
Sie sind bevölkert von Geistern. Von Unausgesprochenem. Martha wird in den ersten Monaten nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in Bremerhaven-Lehe geboren. Eine wie sie, die darf es eigentlich nicht geben, das wird ihr immer wieder deutlich gemacht. Ihre Mutter Selma umgibt eine Kälte, die weder Selmas Mutter noch Martha als ihr Kind durchdringen können. Aus einer so engen und toxischen Umgebung kann eine junge Frau wie Martha nur versuchen auszubrechen. Die 50er- und 60er-Jahre in Bremerhaven sind dann positiv von den Amerikanischen Besatzern beeinflusst; eine für Martha faszinierende und aufregende Parallelwelt. Sie sagt sich: Die Geschichte wiederholt sich nicht, für mich geht sie gut aus. Diese Resilienz ist etwas, das ihr zutiefst eigen ist, aber auch den anderen Frauen ihrer Familie. Sie müssen immer wieder von vorne beginnen. Martha schafft dies mit einer flirrenden Leichtigkeit, die durch einen sehr starken Willen geprägt ist.
Vor allem ist ihr Roman mit seiner wunderbaren Erzählerin Raisa auch eine Hommage an die achtziger Jahre. Wer damals jung war, wird sich zuhause fühlen in diesem Buch. Ist es Zufall, dass es gerade diese Generation ist, der es gelingt, den Zirkel des Schweigens in den Familien aufzubrechen?
Raisa ist unbefangen, neugierig, trotzig, wie es Kinder sind, dabei sehr selbstbewusst und empathisch. Sie stellt Fragen, bis sie eine Antwort bekommt. Sie spürt, dass das Schweigen lange vor ihrer Geburt begonnen hat und dass die Familie, in der sie aufwächst, Geheimnisse hat. Aber Raisa und ihr bester Freund Mat bilden eine verschworene Gemeinschaft. Sie können sich der Liebe und der Geborgenheit ihrer Mütter sicher sein können. Das unterscheidet sie von der Generation ihrer Eltern und Großeltern: Sie können sich in diesem geschützten Raum auf die Suche begeben. Der Roman erzählt die Geschichte einer Heilung und Selbstermächtigung. Die Suche nach Antworten auf die Fragen, von denen es so viele gibt, ist vielleicht typisch für meine Generation, die in den 1980er Jahren aufgewachsen ist. Wir können Fragen ausformulieren, die unsere Eltern und Großeltern aus verschiedensten Gründen nicht aussprechen konnten. Ich reflektiere hier auch meine eigene Familiengeschichte. Es gibt nicht auf jede Frage eine Antwort. Aber mit jeder Antwort wächst unsere Verantwortung; wir sehen ja, wie sich unsere Welt derzeit verändert und zu kippen droht.
In „Portrait meiner Mutter mit Geistern“ winden sich die Zeiten und Erzählebenen wie ein Zopf ineinander…
...und indem die einzelnen Erzählstränge sich abwechseln, aber verflochten sind, können die Figuren über die Zeiten hinweg miteinander interagieren, ja sprechen. Die eine Handlung in der Vergangenheit bedingt die nächste in der Gegenwart. Um zu verstehen, warum Marthas Mutter wurde, wie sie war, muss auch ihre Geschichte erzählt werden. Damit geht es auch um die Kraft des Erzählens selbst. An einer Stelle im Roman heißt es sinngemäß: Ein Leben kann kaputt erzählt werden, es kann aber auch gesund erzählt werden, indem ich Namen gebe und Bedeutung. Was einen Namen hat, hat es gegeben.
Freundschaften spielen eine sehr große Rolle in Ihrem Roman, in jeder Generation haben junge Frauen enge beste Freunde.
Freundschaften werden im Roman zu Wahlfamilien. Sie sind großartig und liebevoll und verrückt und bedingungslos. Diese engen Freundschaften tragen durch das Leben, sie retten Leben, sie sind stärker als alles, was die Familien geben können.
Ein Name ist nicht viel, aber manchmal ist er alles, was wir haben. Weshalb tragen Ihre weiblichen Figuren keine Nachnamen?
Familiennamen wurden zu den Zeiten, in denen der Roman spielt, von den Männern weitergegeben. Es ging mir darum, die weibliche Genealogie zu erzählen. Alle Frauen ziehen ihre Kinder größtenteils ohne bzw. trotz der Männer, die sie geheiratet haben, groß. Oder gründen eine Familie ganz ohne einen Mann. Die Väter sind Abwesende, sie füllen ihre Rolle nicht aus. Der zitierte Satz bezieht sich aber noch auf etwas anderes: Die Suche nach Raisas Großvater, Marthas Vater, über den Martha selbst nie etwas erfahren hat. Er musste seine Identität wechseln, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen, er wurde verschwiegen, entmenschlicht. Er ist ein Namenloser für Martha. Aber Raisa beginnt nach ihm zu suchen und nach seinem Namen.
Ich lese diesen Roman auch als ein feministisches Buch.
Absolut. Es gibt im Roman eine Stelle, an der Martha sagt: »Wir zwei, wir sind die Familie. Mehr brauchen wir nicht.« – Sie braucht keinen Mann, im Gegenteil, sie muss sich und ihr Kind davor schützen, denn sie hat sowohl Gewalt durch Männer erfahren als auch Verrat. Um diese Freiheit zu erreichen, verzichtet sie auf vieles. Dazu gehört Mut. Die zwei Frauen, die in den 80er Jahren ihre Kinder allein großziehen, bilden eine neue, moderne Familienkonstellation. Eine, die auf der Solidarität und Verbundenheit zwischen Frauen beruht.
Rabea Edel, Schriftstellerin und Fotografin, im Gespräch mit Programmleiterin Susanne Krones über ihren Roman „Portrait meiner Mutter mit Geistern“