Der Lyrik-Wettbewerb: Die prämierten Gedichte

Die Jury hat getagt und die Gewinner:innen stehen fest. Die prämierten Gedichte sind nun hier veröffentlicht

Im Zuge des Lyrikwettbewerbs haben wir im Frühjahr 2023 Lyrikfreund:innen dazu aufgerufen, uns ihre selbstverfassten Gedichte zuzusenden. Von lustig bis ergreifend, von vier Versen bis zu zwei Seiten haben uns über 300 Einsendungen erreicht!

Die sechs ausgewählten Gewinner:innen haben eine Einladung zu einem Lyrikwochenende mit dem Herausgeber des Ewigen Brunnens, Dirk von Petersdorff, erhalten. Unter den Teilnehmenden wurden zudem  100 C.H.Beck Gedichtekalender 2024 verlost. Die prämierten Gedichte sowie 10 weitere, die es in die engere Auswahl geschafft haben, sehen Sie nun im Folgenden:

Andreas Pasch

Autograph eines Photons

In meinem Sein gibt es kein Halten
Und keine Zeit, die mir verstreicht
Für Euch beweg ich mich - für mich
Ist alles gleich erreicht & wieder nicht +

Doch linientreu ist meine Bahn wohl nicht
Ich werde abgelenkt von schweren Sachen
Die denkbar schwersten endlich fangen mich
Ganz ohne Wiederkehr in ihrem Rachen +

Ich & die meinen weben Netze
Allüberall wo Licht durch Räume reist
Für mich ist alles das verbunden
Was selbst sich Ort um Ort die Grenzen weist +

Als Teilchen wirkend reise ich als Welle
Bin in mir selbst dann weder dies noch das
So fein & doch umfassend sind die Wege
Die ich als Ganzes gehe ohne Unterlass +

Ich bin von Anbeginn dabei - seh' gleich
Das Ende - die ganze Vielfalt ist mir einerlei
Das kosmisch Seiende ist ein Moment nur
Entstanden eben & auch schon vorbei +



Maria Pohlen

Verloren

Als ich im Driften einer Sekunde
zur nächsten
mich verließ
auf sicheren Tritt und
Verlässlichkeit der Hand,
während ein Zufall
zwischen zwei Sekunden
dies für unwichtig erklärte,
und mir ohne Widerstand das aus der Hand nahm,
wonach ich verlangte, es besitzen zu wollen:
gespeicherte Daten und Bilder.
Sie verschwanden im Wasser vor mir
und verlöschten für immer,
während ich im Driften
zur nächsten Sekunde
mit leeren Händen und ohne Zögern begriff:
Die Seligkeit des Verschwindens
von Verlangen bedarf der Übung.
Bis zuletzt.


Iva Rosina Feuser

Ich frage dich

Ich frage dich, was du jetzt nach allem von mir hältst
Und ich frage mich, ob ich dir so gefalle, wie du mir gefällst
Du sagst mir, dass du es gerade noch nicht weißt
Dass du gerade nicht mal weißt, wer du bist, und nicht mal weißt, wie du heißt
Ich höre die Bilder an den Wänden Gerüchte über mich verbreiten
Weil ich mit dir rede, obwohl du gar nicht hier bist
Sie beobachten mich von allen Seiten
Nehmen mich Stück für Stück auseinander, bis nichts mehr übrig ist
Sie wissen, dass ich nicht ehrlich bin, zu mir und zu dir
Weil ich niemandem eingestehe, dass ich dich suche, während ich mich selbst verlier‘


Serkan Erol

das dreieck der hände

vor der festung çanakkale auf klapprigem holzstuhl
sitzen und auf das blaudunkle meer schauen dazu

ofenfrischer sesamring zum heißen çay erst der ruf
des muezzin fischt das aug aus dem meer und legt
die stirn auf den teppich in das dreieck der hände


Kai Hammermeister

Gott ist. Sage ich. Sagst du.

1
Gott ist unter dem Fingernagel.
Und hinterm Ohr auch, 
deinem wie meinem.
Vom Ort hinter Ohr
lacht er hervor. 
Ein gewitzter Schalk ist Gott,
sage ich und du antwortest,
das sei pleonastisch.
Ich streiche das Adjektiv
und bete: Du mein Schalk,
sing in mein Ohr
sing was fantastisch
und fröhlich ist
sing mich zu dir empor. 

2
Gott ist ein Igel.
Aber auch ein Moskito, sagst du.
Auch ein Moskito, gebe ich zu.
Und zwei Echsen, eine Echsenfrau,
ein Echsenmann. 
Er ist jedes Tier und das
was sie fressen.
Die Echsen die Moskitos,
der Igel den Löwenzahn.

3
Gott ist. Einfach so.
Mehr fällt mir dazu nicht ein.
Mir geht es ebenso,
sagst du. 
Und unserem ratlosen Miteinandersein
hört er zu. 


Nele Röttger

Das Experiment

Wir haben
Die Schutzbrillen
Abgelegt
Alle Hähne
Wasser, Druckluft, Gas
Sind jetzt zugedreht
Die letzten Schwaden
Von Rauch ziehen
Durch den Raum
In Richtung
Des geöffneten Fensters
Und auch
Die Tür
Steht sperrangelweit auf:
Im langen Flur
Hängen drei
Weiße Kittel
An den Haken
Einer von dir
Einer von mir
Und einer für alle Fälle
Wir sind
Jetzt draußen
Denn das Experiment
Hat ergeben
Versuch ist Versuch
Aber Wagnis ist Leben


Wir gratulieren den Preisträger:innen sehr herzlich und danken für alle Einsendungen!

Engere Auswahl 


Kathrin Thenhausen

aufwachsen

wenn mutter sagt
nicht mit ganzen stunden werfen,
werfen ihre finger falten, ihre stimme
abgestumpft, ihr lächeln müde,
als hätte sie dieselben fehler lang zuvor gemacht.

nächsten karneval gehe ich als sanduhr,
aus kleinen körnern kann großes entstehen,
das glaubte sie früher auch und würzt nun
mit vier verschiedenen salzen.

steht in der küche, als stillleben,
trägt sie den parkett oder der fußboden sie?
misst die dicke des bratens und stellt nach ihr die uhr,
ich habe den wecker auswendig gelernt,
sie zeigt mir, wie man es saignant hält.


Eva Putz

Mein Kind

Mein Kind wird erwachsen
Mein Kind wird groß
Mein Kind breitet die Flügel aus
und fliegt los.

Es breitet seine Flügel aus,
es segelt los.

Das Nest ist verlassen
Meine Liebe ist groß.

Deine Kreise werden weiter
Deine Welt wird bunter
luftige Höhen
mein Netz darunter.

Was immer passiert, mein Kind
Wie stark er auch ist, der Wind
Ich bin da.

Falls du mal stolperst, mein Kind
Falls er dich umbläst, der Wind
Ich bin da.

Ich bin deine Wurzeln, mein Kind
Egal, wo du bist, wo wir sind.
Ich bin da.

Ich glaube an dich, mein Kind
Nütze ihn aus, den Wind
Du bist stark.


Kay Hüttner

Schlechte Ehe.

Sie lebten zusammen
in einem Haus.
Ging sie rein,
ging er raus.

Am Abend tranken sie
gemeinsam Tee.
Er guckte nach Süden,
sie guckte zum See.

Die Bienen summten
die Grillen zirpten,
die Vögel tschilpten
und die Zeit zerbröselte.

Auf dem Friedhof
galten sie als die Besten.
Er lag im Osten,
sie im Westen.


Michael Haupt

Kurze Abhandlung über das Ende
d
er Sprache, des Schweigens und die
damit unzusammenhängenden Dinge

>Ha! Die Schweigende sind Sie!<
Spricht Herr Herder zu Frau Schmidt.
>Und Sie schweigen schön wie nie –
Darum schweige ich gleich mit!<

Herder, auf dem Kanapee,
Schweigt. Vorm Fenster fällt der Schnee.
Draußen breitet, weiß und weit,
Still sich Ein- und Schweigsamkeit.

>Ja, ich bin die Schweigende<,
Nickt Frau Schmidt nach läng’rer Zeit.
>Doch sind Sie der Zeigende;
Zeigen Sie – Beredsamkeit!<

Herder, stumm, gedankenreich,
Hebt sich auf vom Kanapee,
Kramt in einem Schrank sogleich,
Hält dann etwas in die Höh’,
Das ist rund und silberbleich
Und ist eine DVD.

Drauf ein Stück aus jener Zeit,
Als der Film noch schweigsam war,
Und nun schauen sie zu zweit
Stumme Bilder, rein und klar,

Von Herrn Caesars Glanz und Sturz
Und von Meister Cicero,
Der sprach nie besonders kurz,
Aber klug und wörterfroh.

Zwar bleibt, was er sagte, der
Frau Schmidt völlig unhörbar,
Doch sie sieht alsbald, daß er
Ungemein beredsam war.

Dankbar blickt sie Herdern an,
Wortlos schweigend immerfort,
Und auch Herder schweigt – doch dann
Sucht er – sucht nach einem Wort –

Wort, das die Frau Schmidt entzückt –
Wort, ein treffendes wie nie –
Und Frau Schmidt vernimmt beglückt:
>Ha! Die Schweigende sind Sie!<


Christina Jungmeister

Flaschensammlerin

Zwischen all diesen schönen joggenden flanierenden Menschen geht sie langsam.
Gebeugt blickt sie nach unten, fixiert den Boden zu ihren Füßen.
Große blaue Tüten hängen an ihrem Körper,
klirren aneinander
von gesammelten Flaschen.
Unser Schritt wird verhalten,
unsicher flieht unser Blick zurück auf die Alster
zu den sonnengeleiteten Segelbooten.
Das klirrende Flaschenspiel
entzaubert das Spiel aus Licht und Schatten
auf sandigen Uferwegen.
Sie gehen langsam zwischen all diesen schönen Menschen,
doch sind jetzt deutlich zu sehen,
unsere Schatten sammeln Flaschen an den Grenzen des Glücks
am anderen Alsterufer.


Ralph Linde

Wendepunkt

Dieser Moment
auf einer Schaukel,
in dem der Schwung
der Aufwärtsbewegung
vorbei ist und der Sog
der Abwärtsbewegung
noch nicht eingesetzt hat,
der Augenblick,
bevor aus dem einen
das andere wird,
wenn der Körper
schwerelos
innezuhalten scheint,
ehe das Pendel
in die andere Richtung
ausschlägt,
dieser Moment ist da,
ohne etwas zu sein.


Rudolf Heß

Das Karussell

Siehst du den vagen Funken,
der in der Fern da lugt?
Hörst du der Zeiten Stimme,
die der Wind stets schluckt?

Ist es das Sein und dessen Wille,
dass das Pendel ewig schwingt?
Nein, es kennt nicht Ruh und Stille,
in der Fern die Zukunft blinkt.

Ist es der Ära zarte Blüte,
deren Kelch empor sich reckt?
Schon fällt ein farbig Blatt vom Holze,
hat es dich vielleicht geschreckt?

Das Karussell als Zeitgetriebe,
wo Altes stetig neu beginnt.
Ich wünschte, dass es stehen bliebe,
doch der Augenblick verrinnt.

Das Karussell dreht seine Runde,
gen Süden zieht die Vogelschar.
Der Moment nimmt Stund für Stunde,
es erstirbt das alte Jahr.

Ist das das Spiel der Ewigkeiten,
das niemals findet Ruh und Rast?
Es wird uns noch ein Stück begleiten,
auf dieser Welt sind wir nur Gast.


Inga Hartenstein

Dich Tier

Dich Tier
Dunkles, wildes
Rufe ich

Dein
Tier Sein

Dich Stein
Kalter, glatter

Rufe ich

Dein
Stein Sein

Euch Gräser
Dünne, vom Wind gebogene

Rufe ich

Euer

Gräser Sein

Aus einem Grund

Lehrt mich

Mein
Mensch Sein


Diane Gill

Eine Hand

Eine Hand kann den Bogen führen
über die Saiten einer Geige.
Den Kopf eines Kindes berühren,
wo die Zuwendung geht zur Neige.

Innehalten über dem Knauf einer Tür
und lautlos über ihr Holzfurnier streichen.
Sich falten wie Pergamentpapier
und hoch erhoben andere weisen.

Sacht ruhen auf dem Geländer einer Stiege,
schnell sich erheben oder einfach nur liegen,
schwarz ummantelt sich zeigen betroffen.

Trocken Mehl für Brot sieben
mit anderen sprechend kaum lügen
eine Hand sein geschlossen und offen.


Peter Hartwig

Passionszeit

Es stapeln Hölzer sich an vielen Wegen.
Das Hohe steht nicht mehr, es stand ein Baum.
Nur niedrig liegt ein Grün, wo hochgelegen
ein Wind durch Kronen ging. Wogegen kaum

ein Sommer Feuer fing und Blätter brannten,
in dem nicht Stämme starben ihren Tod
in kühlen Wäldern, die den Geiz nicht kannten,
bis Tage glühten heiß im Sonnenrot.

Die Dornenhecke blüht auf ihre Weise
mit weiß gespitzten Knospen, wo geschützt
ein Vogel sicher sitzt und schnäbelt leise
auf seine Art, die auch der Hecke nützt.

Die Gedichtsammlung «Der ewige Brunnen» ist seit vielen Jahrzehnten ein Klassiker. Millionen von Leserinnen und Lesern haben hier die Welt der deutschen Lyrik entdeckt und erkundet. In diesem schier unerschöpflichen Lesebuch spiegeln sich die Lebenserfahrungen von Jahrhunderten. Jetzt erscheint es in einer Neuausgabe, in der Dirk von Petersdorff berühmte und kanonische Gedichte mit frischen Stimmen aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart vereinigt hat.

Von Brentano bis Bachmann, von Goethe bis Gernhardt, von Luther bis Udo Lindenberg reicht die Bandbreite der Autorinnen und Autoren, deren schönste und beste Gedichte im «Ewigen Brunnen» versammelt sind. Dirk von Petersdorff hat die Anthologie bis in die Gegenwart fortgeführt. Er hat mehr Gedichte von Frauen als je zuvor aufgenommen und das kulturelle Spektrum der Auswahl erweitert. Erstmals stehen im neuen «Ewigen Brunnen» auch einige erstklassige Songtexte. Die Gedichte sind nach Lebenssituationen und Themen gruppiert. So finden sich hier Gedichte über die Jugend und über das Alter, über die Höhen und Tiefen der Liebe, über Aufbrüche und Umbrüche, Ermutigung und Trost. Die Natur wird besungen und die Lebenskunst, es gibt Gedichte zum Lachen und politische Lyrik, Gedichte von Heimweh und Fernweh, von Glaube und Zweifel. Der «Ewige Brunnen» ist ein einzigartiger Quell des Vergnügens, der Klugheit und der Weisheit.